Die Heldenreise – Das Abenteuer der Selbstbefreiung
In fast vergessener Vorzeit feiern archaische Menschen den Beginn des neuen, frischen Jahres mit der Zerstörung des alten, verbrauchten Jahres. In immer gleichen Ritualen wiederholen sie den Mythos der Weltschöpfung, indem sie selbst diesen Mythos verkörpern. Die Welt des alten, kranken Jahres muss zerstört werden. Alles gestaltige Leben löst sich auf, in der form- und gestaltlosen Finsternis des Urmeeres.
Es gibt Mythen voller Dunkel. Sie scheinen eine Vergangenheit zu haben, die sie selbst nicht mehr wissen, von ihr her sind sie mit Sinn beladen, den sie nicht mehr sagen können. Nur um den Menschen durch jene notwendigen Gehalte des Lebens, die seine naturhaft unausweichlichen Krisenpunkte bedeuten, ohne Schiffbruch zu geleiten. (Zimmer, Heinrich, Indische Sphären, 1935)
Autorin: Ninon Hensel
Lesedauer: ca. 5 Minuten
Inhalt:
Steigerungslogik
Heldentum ist innerlich
Verweigerung
Die Heldenreise und ein neues Bewusstsein / Perspektivwechsel
Anfängergeist
Befreiung
Am dritten Tag des schwarzen Neumondes entsteht eine neue Welt – geschöpft von dem alles Göttliche verkörpernden Menschen. Aus dem Nichts. Aus gestaltloser Leere. Unverbraucht. Paradiesisch. Regeneriert. Ausgestattet mit allen Potentialen und Ressourcen. Ein gespielter, erlebter und erfahrener Neubeginn. Ein reales und gespieltes Sterben und Erwachen. Die Erfahrung der Dualität als Basis und Nahrung jedes Konfliktes, der immer heftige Emotionen schürt, löst sich auf in einer vollendeten Einheit. In ältesten Gemeinschaften, ausgedrückt im Symbol des Kindes. Der Held stirbt seinen (ICH)Tod und kehrt als unbefleckter, neuer Mensch zurück.
Die Heldenreise ist ein zeitloses Ritual des Überganges von einem Lebensabschnitt in den Nächsten inmitten des menschlichen Lebens. Diese Passagen vollziehen sich in dramatischer Gesetzmäßigkeit. Wann immer sich Menschen aufregende, (an)spannende Geschichten erzählen oder (vorspielen), verwandeln sie ihr eigenes inneres Erleben in eine für andere Menschen begreifbare äußere Handlung. Darin finden sich dann Menschen wieder. Immer.
Steigerungslogik
Wir müssen ungeheuer schaffen, schaffen, schaffen, um überhaupt einen Lichtblick in Richtung Freiheit für möglich zu halten. Der Hauptpunkt ist, daß wir uns geleitet von Not und Angst und Sicherheitsinteressen, denen wir selbst andauernd den materiellen Anlaß schaffen, nicht auf unsere inneren Kräfte, die prinzipiell mit der kosmischen Entwicklung konform sind, verlassen, sondern noch mehr Trägheitsmoment, noch mehr tödliche Masse produzieren, um dem Tod zu entgehen und Befreiung zu erlangen. (Bahro, Rudolf, 1991, Zugänge zum Wesen der ökologischen Krise)
Schaue ich mit dem Marketingblick der Unterhaltungsindustrie auf meßbare Verwertungskennziffern, dann findet sich in der Heldenreise das perfekte Produkt. Nie komme ich dem einzelnen Menschen so einfach so nah. Mit der Heldenreise zielt Mensch direkt in das Herz, in die Seele. Nicht umsonst folgen viele Produkte ihrer Logik. Auch wenn die Story vorhersehbar und immer wieder gleich ist oder gleich sein muss. Auch wenn sich nur die Bilder oder Spähren des Erzählten ändern – immer besteht ein direkter Zugang zum Innersten der Menschen weltweit. Mag die Heldennreise heute aus dem Storytelling, der Unterhaltungsindustrie oder aus Propagandaveranstaltungen bekannt sein, ihr Ursprung liegt viel tiefer. Joseph Campell der „Entdecker“ der Heldenreise weiß das. Der amerikanische Mythenforscher verglich Religionen, Mythen und Sagen verschiedener Völker der ganzen Erde miteinander. Er bemerkte ein ständig wiederkehrendes Grundmuster in der Art und Weise menschlicher Entwicklung. Und der irische Schriftsteller James Joyce nannte in seinem letzten Roman Finnegans Wake ein solches Schema „a monomyth„– ein Monomythos. Campbell entlehnte diese treffende Bezeichnung schließlich für den Zyklus seiner „Hero`s Journey“. Die Heldenreise ist immer die gleiche Geschichte. Trotzdem wird sie niemals langweilig. Selbst das Leben Jesu Christus oder Buddhas verläuft in den religiösen Überlieferungen nach eben jenem immer identischem Kreislauf.
Im religiösen Leben der “zupackenden”, allzu geschäftigen Mehrheit der Menschen überwiegt der historische Faktor. Das ganze Ausmaß ihrer Erfahrung bewegt sich im öffentlichen Bereich ihrer Kultur und läßt sich historisch untersuchen. In den geistigen Krisen und Erkenntnissen der “einfühlenden” Personen mit mystischem Einschlag jedoch, ist es der nichthistorische Faktor, der überwiegt, und für sie ist die Bilderwelt ihrer Überlieferung – einerlei wie hochentwickelt sie sein mag – lediglich ein mehr oder weniger taugliches Mittel dazu, eine Erfahrung wiederzugeben, von der sie jenseits des Gesichtskreises dieser Bilderwelt mit unmittelbarer Gewalt getroffen wurden.
Denn in letzter Analyse ist die (religiöse) Erfahrung psychisch und im tiefsten Sinne spontan; sie vollzieht sich im Inneren, ist aber in einem solchen Maße für die gesamte Menschheit konstant, überall wo sie auftritt und allen Bildern Sinntiefe verleiht. Der Schamane repräsentiert diese Tiefe des Erlebens auf der Ebene der Urvölker, wie es der Mystiker, Dichter und Künstler auf den anderen Sprossen der Kulturleiter tun. (Campbell, Joseph 1959, Mythologie der Urvölker)
Heldentum ist innerlich
In jeder menschlichen Existenz, in uns allen, steckt die Anlage mythisch zu werden – Heros und Träger des Göttlichen – wenn einer sich auf den Weg macht, zu werden was er ist. ( Zimmer, Heinrich, Indische Sphären, 1935)
Alle Geschichten und Mythen dieser Welt machen eine innerweltliche Entwicklung begreifbar, die jede:r Einzelne mindestens einmal in seinem Leben erfahren muss. Mehr noch: Indem sich Menschen Geschichten erzählen, durchleben sie ihre eigene Verwandlung noch einmal oder bereiten eine anstehende Transformation in einen weiteren Bewusstseinszustand erneut vor. Ist das der tiefe Sinn in den Geschichten der Heldinnen auf ihren Reisen? Am Ende des Held:innenweges oder der Heldenreise verändert sich der Blick auf die Welt. Zurückkehrende Reisende nehmen die Welt ganz anders, neu oder unbekannt wahr. Es ist ein Staunen in der Welt. Transformierte Menschen sind neu bewusst im Leben. Daraus resultieren Handlungsmöglichkeiten die ihnen vorher einfach nicht zur Verfügung standen. Jetzt erst verfügen sie über genau die Möglichkeiten, eine alte, kranke, enge Umgebung zu verändern. Das geht nach einer vollendeten Heldenreise ganz von allein, wie von Zauberhand. Im Flow sozusagen, tragen Held;innen Veränderung in die Welt. Mit Liebe, Mitgefühl, Vertrauen und Verständnis.
Die seltene Erscheinung des wahren Helden tritt über den Horizont, der keiner Götterhilfe, keiner Zauberwaffen bedarf, der nicht erbebt wo alle zittern. Aber was er Einziges, Unerhörtes ist, vermag er einzig aus sich selbst. Heldentum ist innerlich: in uns wird überwunden oder nirgendwo. (Zimmer, Heinrich, Indische Sphären, 1935)
Verweigerung
Verweigern Menschen ihre innerweltliche Transformation (d.h. ihre Heldenreise), kämpfen sie auf der Stelle stehend lange andauernd gegen sich selbst. Sie leben in unendlich währender Krise. Leben erscheint sinnlos, als Bürde und Belastung. Das kann zermürbend sein, kräftezehrend, nervenaufreibend. Stressreiches Leben somatisiert sich z.B. in zahllosen (Zivilisations -)Krankheiten. Im Tarot entspricht dieser Zustand dem „Hanged Man„. Bis zu „jener Karte“ – bis zu jenem Zustand – gelangen alle Menschen mindestens einmal in ihrem Leben. Gehen sie nicht darüber hinaus, träumen sie vielleicht auch von einem Heldentod auf den Schlachtfeldern der Kriege dieser Erde, von Befreiung oder Herrschaft, von Rasse und Überlegenheit. Sie folgen extatisch ihren narzistisch veranlagten Führungspersönlichkeiten, Gurus, Heilsbringern.
Personenkult → übermäßige Verehrung und Glorifizierung einer in der Regel noch lebenden Person, die eine – behauptete oder tatsächliche – Vorbildfunktion hat. Er tritt in allen gesellschaftlichen Bereichen auf, sehr häufig in Politik, Unterhaltungsindustrie, Sport und Kultur. In seiner modernen Ausprägung ähnelt er dem Starkult, mit dem Unterschied, dass an einen Star oder an einen Prominenten geringere moralische Ansprüche gestellt werden. Verwandte Begriffe sind charismatische Herrschaft, Heiligenverehrung, Totenkult und Heldenverehrung. Da sich der Personenkult propagandistisch instrumentalisieren lässt, ist er ein Merkmal vieler Diktaturen. Wikipedia, 07.01.2021
In die Schützengräben führt der Heldenweg aus Anbetung und delegierter Verantwortung. Dort jedoch wird erbärmlich verreckt, verkrüppelt, vernichtet und geschunden. Der brutale Kampf um das Überleben und Unterwerfen und Demütigen regiert das Denken sowie Handeln Tag und Nacht. Nichts anderes erzeugt das ungebremste Wachstumsdogma einer modernen Konsumwelt. Traumatisierte Menschen bleiben übrig. Ohne Vertrauen mehr in das Leben? Im Leid liegt die Chance verborgen. Denn irgendwann will jeder Mensch mal raus aus seiner Haut. Irgendwann denkt er dran.
Every heart, every heart to love will come
But like a refugee.Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in.
Die Heldenreise und ein neues Bewusstsein
Die Schlachten in den Mythen oder Heldenepen versuchen zu veranschaulichen wie grausam der Krieg IM Menschen selbst tobt, je stärker der innere Widerstand sich in den Weg stellt. Und die Heldenreisen erzählen auch, das der Sieg am Ende ganz leicht errungen ist. Er fällt dem/der Held:in zu. Einfach so. Ein Sieg kann dann auch kein epischer Triumph mehr über einen niedergerungenen Feind sein. Ein Sieg in der Heldenreise ist im Finale die Erkenntnis und Integration unserer Lebensenergie in das Sein. Dann erst tritt die wahre Heldin oder der wahre Held in Erscheinung. Held:innen bringen das Neue in die Welt. Das was sie tief in sich selbst erfahren haben und nun mit ihrem lebendigen Fleisch ganz und gar verkörpern. Helden repräsentieren das neue, weitere, tiefere Bewusstsein. Ein Perspektivwechsel findet statt. Sie sehen die Welt mit anderen Augen und in anderem Licht. Sie repräsentieren nach ihrer Heldenreise genau jene unbekannte Energie, ohne die kein Leben im Universum denkbar ist. Der Mensch befindet sich für einen kurzen Zeitraum im Status der Vollkommenheit, homolog mit den kosmischen Kräften. Die innere Gegensatzspannung ist gelöst.
Entwicklung ist Selbstverwirklichung, ist Individuation. Insofern die Individuation eine heroische oder tragische, das heißt eine schwerste Aufgabe darstellt, bedeutet sie Leiden, eine Passion des Ich, nämlich des empirischen, gewöhnlichen, bisherigen Menschen, dem es zustößt seiner sich frei dünkenden Eigenwilligkeit beraubt zu werden. Das Drama des archetypischen Christusleben beschreibt in symbolischen Bildern die Ereignisse im bewussten und bewußtseinstranszendenten Leben des Menschen, der von seinem höheren Schicksal gewandelt wird. (Jung, Carl Gustav, 1940, in Psychologische Deutung des Trinitätsdogmas)
Ein solcher Vorgang ist „jenseits der Worte“ denn er lässt sich nicht durch eine Verweisung auf irgendetwas erklären. Der Geist wird, – für einen Augenblick, für einen Tag oder vielleicht für immer – von der inneren Unruhe, genießen, siegen oder rechthaben zu müssen, befreit, die dem Nervennetz entspringt, in das die Menschen verstrickt sind. Bei einem aufgelösten Ich ist in dem Netz nichts als Leben – das überall und immerdar ist. (Campbell, Joseph, 1959, Mythologie der Urvölker)
Anfängergeist
Jener Anfängergeist verliert seine Zauberkraft, wenn er festgehalten wird. Wenn eisenharter Wille oder Selbstzufriedenheit übrig bleibt, statt immer wieder neu errungener, organischer Legitimation. Im nächsten Augenblick ist dann das lebendige Leben schon wieder verloren. Da lässt sich Excalibur einfach nicht mehr aus dem Stein ziehen. Die alte Krise ist da, als wäre nichts geschehen.
Held:in sein heißt sich den Krisen und Konflikten dieser Welt unentwegt stellen. Doch nicht auf jene Art wie es das wörtliche Verständnis der Heldenepen suggerieren kann. Wissenschaftlicher Konsens heute ist: Mythen und Religionen sind zuerst poetisch zu lesen, als ein Symbol des Menschen im System der ihn bettenden Natur und seiner Entwicklung darin. Sie zeigen „das menschliche Herz im Konflikt mit sich selbst“ (George R. Martin) und sind somit intrapersonelle Tatsachen. Das Blut der Schlachtfelder muss folglich auch heute zyklisch neu innerlich vergossen werden, in dahinschmelzenden Leben (Selbstbehauptungen) ohne Zahl.
Das wörtliche Verständnis des Mythos zerstört seinen Sinn. (Campbell, Joseph, Mythologie der Urvölker, 1959)
Befreiung
Die tiefgreifende Entwicklung oder Transformation menschlicher Beziehungen, hin zu einem freien, weiten (immer mehr grenzenlosen) Zustand kann nur geleistet werden von Menschen die sich selbst immer und immer wieder in ihrer innersten Tiefe begegnen und besiegen können. Jene die bekennen zu sein, was sie eigentlich sind: schwache, kleine, suchende Wesen. Sie hören den Ruf der Selbstbefreiung immer wieder neu.
Wenn die Seelenschwäche der tiefste Grund für unser Festgefahrensein in der Megamaschine ist, dann macht die ökologische Krise, macht der Umstand, daß das Häuschen zu klein wird für diese manisch vulgärmaterialistische Praxis, nur klar, wir müssen unsere inneren Wesenskräfte wiederbeleben. (Bahro, Rudolf, 1991, Zugänge zum Wesen der ökologischen Krise)
Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. (Paulus, 1 Kor 15, 42.43)
Ein langes, erfülltes Menschenleben – ein Heldenleben ist ein konfliktreiches Leben, das sich nicht auf der Suche nach dem Bequemen und Schönen mit sich selbst zufrieden gibt. Denn das Wahre und Schöne und Gute dieser Welt ist immer da. Es tritt nur dann sichtbar, strahlend und heilsam hervor, wenn Menschen sich in Harmonie mit dem Rhythmus des Kosmos gesetzt haben. Darin besteht die eigentliche Heldentat. Das ist der Lohn jeder gewagten Heldenreise. Davon berichten die Mythen Sagen und Religionen dieser Welt in ihrem tiefen Kern. Und sie laden jeden Suchenden ein zu dem Abenteuer des vollständigen Lebens.
Das Seminar „Heldenreise“ war und ist für mich eine unfassbare, unbeschreibliche und initiierende Erfahrung. Die Faszination und Dankbarkeit für diesen Prozeß und das Leben ist seitdem stetig in mir spürbar geblieben. Gern gebe ich diese Erfahrung auch an Dich weiter. Die Heldenreise als Seminar nach Paul Rebillot basiert auf der Gestalttherapie. Sie ist die absolute Basis meiner therapeutischen Arbeit die ich heute traumainformiert vorwiegend nach nach NARM® gestalte.
Ninon Hensel (Leiterin Schatzberg Akademie)